Wolfgang Neuss: Vom Sterbebammel

Weißt du,
warum wir Angst vorm Sterben haben?
Weil wir nicht wissen,
wie es geht.
Es gibt keine öffentliche Sterbestuben,
wo man Leute beim Sterben beobachten kann
(so wie man jederzeit Leute beim Gebären beobachten kann),
könnte man vielleicht von Sterbekultur sprechen -
es herrscht aber die pure Sterbebarberei,
und jedes Tier hat mehr Sterbepraxis als wir.
Und wahrscheinlich auch mehr Geburtskultur.

Wie sieht die bei uns aus?
Meine Frau kriegt'n Kind,
paar Glas Sekt und ewige Treue,
Anmeldung beim Standesamt,
Annoncen in der Zeitung ...
aber Kultur,
daß da jemand angekommen ist,
der uns vielleicht 49 Tage vorher gerade verlassen hat?
Nix.
Über den Tod und das Sterben wird nix gewußt und nix erzählt.
Auch das Kind,
das geboren wird,
wird im Unklaren gelassen,
die ersten vier Jahre denkt es,
es kommt für immer und ewig.
Dabei müßte es doch selbstverständlich sein,
so wie die Frau jederzeit die Hebamme ruft,
wenn die Wehe kommt,
daß man genauso jederzeit seinen Sterbebammel rufen kann:
Kommen Sie her,
ich setz mich aufs Sofa,
und jetzt lassen Sie mich sterben.
Ja klar,
sagt der,
ich lasse Sie ja,
aber machen müssen Sie es alleine.
Ja, aber Sie sind doch Sterbebammel?

Ich bin doch kein Hackerthal,
sagt der,
krank sterben ist doch die alte Unsitte,
ich helfe Ihnen,
gesund zu sterben.
Das ist eine urige Angelegenheit,
wie die Geburt,
nur andersrum.
Ja, und dann sagt der Sterbebammel:
Lehn Dich zurück,
und erinnere dich,
wo du geboren bist,
erinnere dich,
und vergiß es sofort,
für immer.
Vergiß,
wo du zur Schule gegangen bist,
vergiß,
wo du essen und trinken gelernt hast,
vergiß, vergiß, vergiß.
Sterben heißt vergessen.
Aber Vergessen ist nicht leicht.
Wenn das Sterben von Menschen
nicht mehr für selbstverständlich gehalten wird,
dann wird es selbstverständlich.
Gäbe es so was wie Sterbekultur,
hätten wir Kirchen,
in denen das Vergessen geübt würde.
Du kommst aus der Kirche und weißt nicht mehr,
wie du heißt.
Du bist ein Zombie,
Gestorbener auf Urlaub,
und immer anwesend.

Von Sterbekultur kann erst die Rede sein,
wenn wir das Wort todessehnsüchtig
durch veränderungswillig ersetzen.
Menschen,
die Sterben lernen wie ein Handwerk
und die Geburt zu einem Super-Gottesdienst ausweiten,
brauchen keine Wasserwerfer,
um Leuten über die Brust zu fahren.
Auf der Erde herrscht ständiges Kommen und Gehen,
Werden und Vergehen,
und wir sind ganz besondere Pflanzen,
wir können,
kennen wir die Methode,
wie man im Stehen stirbt,
anwesend anwesend bleiben.
Am meisten lache ich im Moment über reiche Leute,
die eine Menge Geld angeschafft haben
und doch abnippeln.
Und beim Vergessen,
beim Sterben,
mitten im Bammel,
verschenken sie meistens noch alles
oder treten schnell wieder in die Kirche ein ...
Die Sterbeindustrie allerdings
ist der größte Beschiß.
Was der Geist verlassen hat,
dürfte nichts mehr kosten.
Weil es den Tod eigentlich nicht gibt,
kosten Geburt und Sterben mehr Geld,
als das Nichts hat.