Make love, not war

Kiffen, Pop und Politik. Das Erbe der 68er

Viel zu oft wird die 68er Bewegung nur unter dem Aspekt einer politischen Revolte betrachtet. Ihre Wurzeln liegen jedoch keineswegs in traditionellen Klassenauseinandersetzungen. Und am allerwenigsten kann man im Zusammenhang mit diesem Aufbegehren eines relevanten Teiles der jüngeren Generation dieser Zeit von Klassenkampf im Sinne der Arbeiterbewegung sprechen.

Vielmehr handelte es sich in erster Linie um eine länderübergreifende kulturrevolutionäre Bewegung. Es war eine Revolte des Überflusses - noch nie in der Menschheitsgeschichte stand der breiten Mehrheit der westlichen Gesellschaft ein so hohes materielles Lebensniveau zur Verfügung - und des Überdrusses und zwar an der kulturellen und moralischen Hegemonie einer erstarrten und zukunftsunfähigen Machtelite. Außer einer gewissen materiellen Sicherheit hatten die Mächtigen dieser Epoche ihrer Nachwuchselite, denn um die handelte es sich, in der Tat kaum etwas zu bieten. Die Propagierung der Kleinfamilie als einziger Form des tolerierbaren Zusammenlebens, eine repressive und prüde Sexualmoral und autoritäre Rituale in Schulen und Universitäten waren die ersten Reibungspunkte der Studenten mit ihrer Vätergeneration. Ihre erste Parole bezog sich keineswegs auf den Vietnam-Krieg oder das faschistische Regime in Persien, sondern lautete »Unter den Talaren - der Muff von 1 000 Jahren«.

Und es ging um mehr Individualität und gegen die herrschende Lustfeindlichkeit. Neue Formen des Zusammenlebens, die Kommunen, wurden ein Merkmal der studentischen Bewegung. Der Konsum psychedelischer Drogen, in erster Linie Haschisch (eine indische Hanfart) und LSD (eine synthetische Psychodroge), gehörte ebenso zu den alltäglichen Lebensformen dieser Zeit wie der exzessive Genuß einer neuen Musik, die hauptsächlich aus den USA nach Europa rübergeschwappt war. »Turn on, tune in, drop out«, dieses Motto der LSD-Propheten um Timothy Leary führt uns zu den kulturellen Wurzeln dieser Bewegung, und die liegen, wie bei fast allen kulturellen Entwicklungen in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg, in den USA.

Schon Anfang der sechziger Jahre hatten städtische Intellektuelle begonnen, sich radikal von den alles beherrschenden Normen des »American Way of Life« abzukoppeln. Der pathologische Antikommunismus der McCarthy-Ära, der alltägliche Rassismus und die unerträgliche Doppelmoral der amerikanischen Gesellschaft bildeten das Umfeld, in dem sich eine neue »Underground-Kultur« entfaltete. Schriftsteller wie Kerouac und Burroughs hielten ihre ersten Lesungen in kleinen Bars im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Obwohl die Einflüsse des Nihilismus und des Dadaismus unverkennbar waren, handelte es sich um eine spezifische amerikanische Ausprägung. Saufen, vögeln, mit geklauten Autos durch die Gegend fahren, das waren die Themen, oder auch »Cut up«, das scheinbar sinnlose Aneinandermontieren von Zeitungsspalten aus verschiedenen Artikeln. Ein gewisser Bob Dylan legte im gleichen Umfeld mit seinen frühen Songs wie »The times they are a changing« oder »Masters of War« die Finger in die Wunden der Herrschenden, Andy Warhol stellte mit seinen reproduzierbaren Siebdrucken von Alltagsgegenständen den gesamten bürgerlichen Kulturbegriff in Frage. Seine Botschaft war, daß jeder Mensch einmal in seinem Leben für eine Viertelstunde ein Superstar sein kann. In seiner »Factory« trafen sich Maler, Literaten, Musiker und Aussteiger aller Art. Quasi aus der Retorte schuf Andy Warhol rund um das deutsche Fotomodell Nico eine wenig später weltberühmte Band namens Velvet Underground, die mit ihrer schrägen, minimalistischen Musik und ihren Hymnen auf den Genuß von Heroin und Kokain Furore machte. Der hektische Moloch New York hatte die Gegenkultur hervorgebracht, die ihm angemessen war: schrill, aggressiv, kompromißlos und laut.

Ganz anders auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten. Auch an der ewig sonnigen Westküste rund um San Francisco hatte sich eine Gegenkultur entwickelt: die Hippies, hierzulande auch Blumenkinder genannt. Auch hier waren die Protagonisten des Ausstiegs überwiegend Sprößlinge aus gutsituierten Mittelstandsfamilien. San Francisco wurde zum magischen Anziehungspunkt. Erstmals in Amerika bekannten sich in dieser Stadt Schwule und Lesben offen zu ihrer sexuellen Orientierung. Tausende waren an den Kunsthochschulen und Colleges der Stadt eingeschrieben, meist nur, um vor ihren Eltern den monatlichen Scheck zu rechtfertigen, ansonsten dominierten Sex, Drugs and Rock'n roll das Lebensgefühl. Jim Morrison lernte hier seine »Doors« kennen wie auch Grace Slick ihre »Jefferson Airplane«. Auf einer alten Farm in der Nähe der Stadt lebte eine riesige Musikerkommune, die ihre Spielart der amerikanischen Countrymusik in oft mehrstündigen Sessions unter LSD-Einfluß zelebrierte und durch ihre unzähligen Auftritte auf Free-Festivals und in dem damals berühmtesten Rockklub der Welt, »Bill Grahams Fillmore East« bald Kultstatus bei Millionen Fans erlangte. Der Kern diese Kommune wurde unter dem Namen »Grateful Dead« weltberühmt.

Die Aussteigerszene von der Westküste unterschied sich auch äußerlich von ihrem Pendant in New York. Lange, wallende Gewänder, indianischer Schmuck und ein starker Hang zur Spiritualität, auch im Zusammenhang mit bewußtseinserweiternden Drogen, waren ihre Kennzeichen.

Bewegung aus der weißen Mittelschicht

Neben der bewußten Ablehnung der bigotten amerikanischen Gesellschaft (fast immer gepaart mit einem kaum nachvollziehbaren Patriotismus) führte in erster Linie der Vietnam-Krieg zu einer Politisierung der kulturrevolutionären Strömungen an der West- und Ostküste der USA. Die ersten Massendemonstrationen gegen den Krieg fanden auf dem Campus der kalifornischen Berkeley- University statt. Die gesamte neue Kulturelite des Landes war anti-militaristisch. Die Liste der Künstler und der Songs, die sich damals gegen den Krieg der USA engagierten, ist ellenlang, und das alte Amerika hatte dem außer John Wayne und Frank Sinatra nicht viel entgegenzusetzen.

Sichtbarster Ausdruck dieser Gegenkultur waren die riesigen Rock-Festivals, in Europa dabei am bekanntesten das in Monterey (1967) und das in Woodstock (1969), wo u. a. Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne buchstäblich zerfetzte und anschließend seine Gitarre verbrannte.

Augenfällig an dieser Bewegung war jedoch auch, daß sie sich fast ausschließlich aus der weißen Mittelschicht rekrutierte und keine nennenswerte Verbindung zu den Organisationen der amerikanischen Arbeiterklasse hatte. Das galt auch für die Verbindung zur Bürgerrechts- und Widerstandsbewegungen der amerikanischen Schwarzen, die sich teilweise nach dem Mord an Martin Luther King sehr radikalisierten und unter Führung der »Black Panther Party« regelrechte Ghettoaufstände durchführten, die von der Staatsmacht blutig niedergeschlagen wurden. Lediglich eine größere Gruppe aus der Hippie-Bewegung bekannte sich zum offenen militanten Kampf gegen das politische System der USA. Das waren die »Weathermen«, so benannt nach einer Songzeile von Bob Dylan (You don't need a weatherman to know which way the wind blows).

Die Studentenbewegungen in Westeuropa sind ohne diesen kulturellen Hintergrund nicht denkbar, und die Parallelen sind, trotz aller Unterschiede, offensichtlich. Zwar kam es, besonders in Frankreich und Italien, zu gemeinsamen Aktionen von streikenden Arbeitern und protestierenden Studenten: Die Kultur- und Klassenschranken zwischen diesen Bewegungen konnten aber zu keinem Zeitpunkt wirklich überwunden werden.

Die Rituale der Hippie-Bewegung hielten auch hierzulande Einzug. Schriftsteller wie Jörg Fauser orientierten sich zeitweilig am »Cut-up« und am Erzählstil der »Beat- Generation«; Bands wie »Amon Düül« und »Can« machten eigenständige deutsche Hippie-Musik. Der Konsum insbesondere von Haschisch wurde Allgemeingut, ein Gutteil der heute in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft sitzenden 50jährigen dürfte in seiner Jugend den einen oder anderen Joint geraucht haben.

Doch es gab auch Unterschiede. Die 68er Bewegungen in Europa waren politischer. Durch marxistisch beeinflußte Philosophen wie Adorno, Horkheimer, Habermas oder Marcuse hielt die Beschäftigung mit den Werken von Marx und Engels schnell Einzug in die Studentenbewegung. Dies galt aber auch für die Schriften der Psychoanalytiker Freud und Reich, war doch eines der wichtigsten Postulate der Bewegung, daß das Private politisch sei. Ähnliches gilt für Frankreich, wo einer der wichtigsten seinerzeit lebenden Schriftsteller, Jean-Paul Sartre, zum prominentesten Unterstützer der Revolte avancierte. Anders als in Westdeutschland, wo kritische Intellektuelle gnadenlos mit dem Totschlagargument »Geht doch rüber (in die DDR), wenn es euch hier nicht paßt«, von herrschenden Medien und Politikern gejagt wurden, sorgte die tief verwurzelte Liberalität eines Großteils des französischen Bürgertums für eine größere Offenheit in der Zukunftsdebatte, denn um nichts anderes ging es letztlich. (»Voltaire verhaftet man nicht« - Charles de Gaulle).

Kulturschock der traditionellen Linken

Wichtigster Kulminationspunkt für die Politisierung der Kulturrevolte in Europa war aber zweifellos der Krieg der USA in Vietnam und die bedingungslose Unterstützung desselben durch die verbündeten europäischen Regierungen.

Die Tatsache, daß auch die SPD und ihr Idol Willy Brandt in dieser Frage absolute Vasallentreue gegenüber den »amerikanischen Freunden« praktizierte, war der Hauptauslöser für die Abspaltung des SDS von der Mutterpartei, der auch bald ein Unvereinbarkeitsbeschluß seitens der SPD folgte. Viele, auch prominente, Sozialdemokraten wurden wegen ihrer Haltung zum Krieg in Vietnam aus der Partei ausgeschlossen.

Die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse begegneten der Revolte mit einer Mischung aus Unverständnis und offener Feindschaft. Auf einer Massenkundgebung des Westberliner Senats gegen die Studentenproteste (»Seht euch diese Typen an«) sprach auch der damalige DGB-Vorsitzende Sickert. Die alles beherrschende Springer-Presse vermischte geschickt ihre antikommunistische Hetze mit verbreiteten Ressentiments (dreckig, verwahrlost, ohne Ideale usw.) Nicht zuletzt diese Progromstimmung führte zu dem Attentat auf Rudi Dutschke.

Doch auch die Parteien der Linken taten sich schwer mit dem kulturrevolutionären Ansatz der neuen Bewegung. Die neuen Lebensformen, die Ablehnung der kleinbürgerlichen Moral und des preußisch geprägten Spießertums, der fundamental anti-autoritäre Ansatz der Studentenbewegung boten keine Schnittmenge mit dem Politik- und Kulturverständnis der traditionellen Kommunisten und mit deren Menschenbild. Erste zarte Diskussionsansätze zwischen der DKP bzw. der SEW und dem SDS sowie anderen Gruppen endeten zudem abrupt nach dem Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR, der von fast allen Vertretern der Bewegung verurteilt wurde.

Die Revolte hatte in politischen Fragen keine relevanten Bündnispartner. Viel entscheidender war jedoch das große subkulturelle Milieu, das sich im Umfeld der Studentenbewegung in den Metropolen Europas gebildet hatte. Hier fand erstmalig die Verschmelzung von Pop und Politik statt. Ho Chi Minh und Che Guevara mutierten zu Superstars, die viele Menschen ganz einfach genauso antörnten wie Janis Joplin oder Jimi Hendrix. Steine schmeißen auf das Verlagsgebäude von Axel Springer und Puddingbomben auf US-Vizepräsident Humphrey waren ebenso Ausdruck von Lebensfreude wie nächtelange Kifferpartys und von festen Beziehungen befreite Sexualität.

»Macht kaputt, was euch kaputt macht« (Ton Steine Scherben). Emanzipatorisches Gedankengut hatte den großen Teil einer ganzen Generation erfaßt. Methodik und Praxis der Sozialwissenschaften wie Pädagogik und Psychologie änderten sich unter dem Einfluß der Studentenrevolte beträchtlich. Individuelle Freiräume wurden benannt und erkämpft. Dies alles hat die westeuropäischen Staaten stark verändert und, sicherlich ungewollt, dem herrschenden Kapitalismus einen enormen Modernisierungsschub gegeben. Die Machtfrage wurde durch diese Revolte nicht gestellt und wenn, wie im Pariser Mai 1968, dann im Operettenformat. In der BRD wurde durch die 68er das Ende der miefigen »formierten Gesellschaft« der Adenauer-Ära eingeläutet. Die inzwischen regierende SPD schloß ihren Frieden mit den Studenten und das auch formal in Form einer Amnestie für Demonstrationsstraftaten. Für die meisten Nachwuchsakademiker begann der »Marsch durch die Institutionen«, der Marsch in die gut dotierten Karrieren an den Unis, in den Medien und in der Politik.

Nach der Auflösung des SDS im Jahr 1970 spaltete sich die ohnehin äußerst heterogene Studentenbewegung in diverse Fraktionen. Einige versuchten, kommunistische Kaderparteien nach dem Vorbild Lenins und Stalins und in Anlehnung an die VR China aufzubauen, ein aufgrund des Fehlens jeglicher Verbindung zur Arbeiterklasse von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Andere sahen die Zeit für den bewaffneten Kampf in den Metropolen gekommen, ein ehrenwerter Versuch, der sich letztlich auch als tragischer Irrweg erwies. Die Bilanz der RAF waren einige Dutzend Tote, eine paralysierte Linke und ein effizient aufgerüsteter Staatsapparat.

Diese Entwicklungen waren sicherlich ein Erbe der 68er, aber nicht das Einzige. Ihr Verdienst bleibt es, die Lebensformen in den verkrusteten kapitalistischen Gesellschaften der Nachkriegsära in Frage gestellt und auf diese Weise einiges in Bewegung gebracht zu haben. Das Macht- und Klassenfragen dabei stets untergeordnet blieben, ist eine Feststellung, keine Kritik.

Rainer Balcerowiak - junge Welt - 15.04.1998